Claudia & Daniel unterwegs in Turkmenistan und Usbekistan
20. Mai – 07. Juni 2017 | 1.350 km, 4.460 hm
Wir sitzen in einem turkmenischen Truckstop unweit der Grenze und ein Alien schlurft aus der Küche! Eins mit zwei X-Chromosomen, langer Mähne, knallpinken Hotpants und neongrünem Top. Wir staunen uns die Augen aus dem Kopf, so hatten wir uns schon an die vermummten Frauen Irans gewöhnt! Bereits zuvor erlebte ich einen galaktisch schönen Moment: Noch nie habe ich mich so gefreut, ein T-Shirt anzuziehen und die Hosenbeine meiner Zipp-Off-Hose abzutrennen! Das ist es, was wir am Reisen so lieben: völlig selbstverständliche Dinge können plötzlich paradiesische Züge annehmen.
Vor uns liegt ein berüchtigtes Stück der Seidenstraße, denn für die anstehenden 500 km durch Turkmenistan bleiben nur fünf Tage. Wer das Transitvisum überzieht, zahlt! 100 km Flachland pro Tag klingen zwar nach einer akzeptablen Herausforderung, aber, aber …
Nach einer Kontrolle zäher als Kaugummi überqueren wir die Grenze erst zur Mittagszeit. Die Sonne erweicht den Teer zu klebrigem Honig, in flirrender Hitze haben wir bisweilen das Gefühl durch Treibsand zu fahren. Schnurgerade Straßen führen durch topfebene Wüste und stetiger Gegenwind treibt turmhohe Windhosen über das Land.
Turkmenistan kann durchaus mit den diktatorischen Eigenheiten Nordkoreas konkurrieren. Das Land wurde nachhaltig durch den Alleinherrscher Niyazov geprägt, der sich selbst die Namen „Führer der Turkmenen“ und „Diamantenkranz des Volkes“ gab. Per Gesetz benannte er alle Monate und Wochentage nach Mitgliedern seiner Familie, dazu einen Meteoriten und eine Melonensorte nach sich selbst. Seine Minister mussten ihn noch zu Lebzeiten zum Propheten ausrufen. Die Einnahmen aus den gewaltigen Erdgasvorkommen des Landes flossen sicher nicht ins Sozialwesen: alle Krankenhäuser außerhalb der Hauptstadt wurden geschlossen, die Renten gestrichen. Selbst der nachfolgende Präsident lockerte nur die aberwitzigsten Reformen (heute darf man wieder Musik im Auto hören), die Einwohner werden weiterhin von strenger Hand geführt. Doch wie auch in Iran treffen wir auf freundliche, hilfsbereite, wenn auch etwas zurück haltendere Menschen. Schade, dass wir nur so wenig Zeit haben sie kennen zu lernen.
Wir starten meist früh am Morgen, wenn die Thermik noch schwach ist, verschlafen die Mittagshitze in Truckstops und hangeln uns von einem Kaltgetränk zum anderen – die manchmal 60 km voneinander entfernt liegen. Dazwischen oft gähnende Leere, einige Büsche, Echsen und Dromedare. Doch nach striktem Zeitplan und in wechselseitigem Windschatten kommen wir unerwartet gut voran und erreichen glücklich wie erschöpft nach vier Fahrtagen die usbekische Grenze.
Und schon wieder ein Alien! Völlig platt holpern wir über eine Baustellenpiste gen Buchara, da schwebt eine bärtige Fata Morgana über den Asphalt: Christoph Rehage, der von Peking nach Hause läuft. Wir testen seinen Handwagen, kochen Kaffee am Straßenrand und feixen: das Buch über seinen Marsch durch China war uns eine große Inspiration, nun treffen wir ihn unterwegs!
Wenig später erreichen wir Buchara, eine der schönsten, wenn nicht die schönste Stadt Zentralasiens. Unzählige Moscheen mit ihren türkisblauen Kuppeln, bunte Teppichmärkte und sandfarbene Medressen – Islamschulen – prägen die Altstadt. Die Formen und Farben scheinen aus der Zeit gefallen, es hätte uns nicht gewundert, Marco Polo persönlich zu begegnen.
Die engen Gassen und backsteinernen Bauwerke zählen zum UNESCO-Weltkulturerbe, denn nur an wenigen Orten überdauerte zentralasiatische Architektur so mannigfaltig die mongolischen Invasionen und sowjetischen Bausünden.
Während Daniel die Gemäuer bröckelig blitzt, werde ich von einer jungen Studentin angesprochen. Sie schwärmt von ihrer Hochzeit mit 700 Gästen, als das Telefon klingelt. Ihr Ehemann möchte wissen, wo sie sei, sie habe ihn nicht um Erlaubnis gefragt. Ich hake verdutzt nach, ob sie das denn nicht einenge, doch sie lacht: „No, no. Sweet sign of his love!“ Tage später wird mir ein anderer Student die patriarchalische Rolle des usbekischen Mannes bestätigen. Er trüge die Verantwortung für das (finanzielle) Wohl der Familie; seine Gattin bitte ihn stets um Rat und Erlaubnis. „Und wenn du deine Firma wechselst, würdest du deine Frau auch um Rat fragen?“ Er grinst: „Nein, sicher nicht.“ Meine westlichen Ohren möchten hören, dass Frauen unterdrückt würden und dies furchtbar schlecht sei, doch ich warte vergebens. Beide sehen in dieser Tradition einen Ausdruck gegenseitigen Respekts und Verantwortung.
Starker Rückenwind treibt uns mit bis zu 140 km pro Tag gen Osten, immer entlang der Seidenstraße. Jene ist im Grunde ein weit verzweigtes Geflecht verschlungener Handelsrouten, die seit jeher Orient und Okzident verbinden. Schon vor Jahrtausenden wurden Gewürze, Metalle, Drogen, Vieh und Menschen gehandelt; Seide aus China war so begehrt wir Buntglas aus Europa. Mit dem Aufkommen der Handelsschifffahrt verlor der Landweg stetig an Bedeutung, erfährt seit einigen Jahren jedoch, begünstigt durch chinesische Großinvestoren, ein unerwartetes Revival.
Dabei verkörpert wohl kein anderer Ort die orientalische Mystik wie Samarkand, zweitgrößte Stadt des Landes und in Teilen ebenfalls Weltkulturerbe. Heute prägen sowjetische Zweckbauten das Stadtbild, die antiken Bauwerke liegen dazwischen verstreut wie Teile eines Puzzles.
Wir radeln bei 40 °C durch dürre Steppe und beeindruckende Schluchten weiter gen Süden. Regelmäßig zum Nachmittag steigert sich das ohnehin große Interesse der usbekischen Männerschaft bis ins Unangenehme, denn bereits zum Mittag wird Wodka aus Teetassen gebechert. Dann sinkt die Distanz, Claudia wird angestarrt und die Räder ausgiebig befummelt. Derart aufgetankt fährt es sich gleich viel leichter; eine reine Männerdomäne übrigens, wir sehen keine einzige Frau hinterm Steuer.
Erfreulicherweise ist die Luft deutlich sauberer, was wohl hauptsächlich an den gasbetriebenen Motoren liegt … vielleicht aber auch an den Fortbewegungsmitteln an sich?
Eigentlich müssten wir alle drei bis fünf Tage in einem Hotel übernachten, sonst gäbe es laut Reiseführer Ärger mit der Grenzpolizei. So richtig halten wir uns daran nicht. Vielmehr genießen wir es, unser „palatka“ – Zelt – auf den Innenhöfen usbekischer Familien aufzustellen. Die anfängliche Scheu verfliegt spätestens, wenn wir unsere Herkunft verraten, dann rufen sie begeistert „RB Leipzig“ und „Modern Talking“. Schnell werden Teppich und Kissen für das Abendbrot unterm Sternenhimmel ausgerollt und wir spontane Nutznießer usbekischer Subsistenzwirtschaft. Suppe, Fladenbrot, Salat, hausgemachter Ayran (gegorene Kuhmilch) und die Himbeer-ähnlichen Früchte des Maulbeerbaumes – ein echtes 5-Sterne-Dinner nach einem langen Tag auf dem Rad.
Die Eltern arrangieren hier oftmals die Ehen, zumindest müssen sie einverstanden sein. Wenn sich die Ehepartner streiten, suchen auch die Väter nach Lösungen. Scheidungen gibt es äußerst selten, komme was wolle. Der familiäre Zusammenhalt steht im Zentrum, nicht das Individuum. Ich denke an die hohe Scheidungsrate und geringe Geburtenquote in Deutschland und fühle mich plötzlich in der Defensive. Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob der in unseren Werten über alles hoch gehaltene Individualismus tatsächlich die beste Form des Zusammenlebens ist. Allerdings treffen wir niemanden, der in seiner arrangierten Ehe unglücklich ist, misshandelt wird und seinem Schicksal nicht entfliehen darf.
Auch ich möchte fliehen – vor dem Grenzpolizisten, der nach den fehlenden Hotelregistrierungen verlangt. Mit treuherzigen Rehaugen und dummdoofer Unschuldsmiene tue ich so, als wüsste ich von nichts. Und als es nicht mehr dümmer geht, dürfen wir endlich passieren! Nach den vielen Kilometern durch staubige Wüsten und Steppen freuen wir uns nun auf ein lang ersehntes Abenteuer in schwindeligen Höhen: die Querung des Pamir. Mit wachsender Aufregung fahren wir Tadschikistan entgegen!