Im Interview mit der Autorin des Kauderwelsch-Sprachführers Deutsch für Ukrainer:innen

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Olha Ohinska floh im März aus ihrer Heimat Odessa nach Bielefeld und kam dort bei Autor Markus Bingel unter. Im Interview erzählt sie uns von ihrer Flucht mit ihrem Mann und ihrem Kind und wie die Idee für den Kauderwelsch-Sprachführer Deutsch für Ukrainer:innen, den sie zusammen mit Markus Bingel schrieb, entstand.

Im März bist du mit deiner Familie aus Odessa geflohen. Wann war für euch der Zeitpunkt gekommen, an dem ihr gemerkt habt, dass ihr eure Heimat verlassen müsst?

Am Morgen des 24. Februar wurde ich von einem Mann geweckt, der sagte: Der Krieg hat begonnen." In diesem Moment stand die Welt Kopf. Alles, was vorher wichtig war, spielte keine Rolle mehr. Eigentum, Arbeit, Projekte sind Kulissen, die sich in eine Art Hölle verwandelt haben. Nur das Leben ist wichtig! In 30 Minuten haben wir irgendwas in einen Koffer gepackt (irgendwas, weil wir nicht bei klarem Verstand waren) und sind von der Stadt ins Dorf zu meiner Mutter gefahren. Ich hatte einfach nur Angst. Wir hörten auf zu essen, zu waschen, zu schlafen…und schauten nur noch Nachrichten. Die Angst um das Leben meines kleinen Sohnes (er war gerade erst 1 Jahr alt geworden) war riesig, ich sah ihn an, stellte mir bestenfalls ein Leben im Keller vor und es wurde zur Hysterie. Ich sagte mir: Wenn ich meinen Sohn vor dem Krieg retten kann, muss ich es tun." Dann fingen wir an, darüber nachzudenken, ins Ausland zu gehen. Aber ich wollte nicht gehen, unser Land, unser Volk und unsere Familie zurücklassen. Aber ein paar Tage später, als sie [die Russen] anfingen, aktiv Raketen auf Wohngebäude zu schießen, wurde mir klar, dass dies nicht nur ein Krieg ist (auch der Krieg hat seine eigenen Gesetze) – dies ist ein echter Völkermord. Raketen flogen überall, es gab keinen sicheren Orte in der Ukraine und es gibt ihn immer noch nicht! Dann sind wir nach Moldawien gefahren.

Wie lief eure Reise nach Bielefeld ab?

Wir waren ungefähr eine Woche in Moldawien und hofften, nach Odessa zurückzukehren. Aber die Entwicklungen zwangen uns, anders zu handeln. Wir entschieden uns, weiterzufahren. Zu dieser Zeit gingen unsere Freunde zu ihren Verwandten nach Bielefeld und schlugen uns vor, auch zu kommen. Aber wir wollten unseren eigenen Weg wählen. Wo? Italien, Deutschland, die Niederlande… wir haben versucht, das Gehirn einzuschalten und nachzudenken, aber es hat nicht funktioniert. Ich besuchte eine Website, auf der Menschen aus aller Welt den Ukrainern Hilfe anboten, und beschloss, zu sehen, ob es dort jemanden aus Bielefeld gab. Und da erschien die Anzeige von Markus auf Ukrainisch und ich habe ihm sofort geschrieben. Also entschieden wir uns zuerst nach Bielefeld zu fahren.

Gab es ein Ereignis dieser Reise, welches dir am meisten in Erinnerung geblieben ist?

Woran ich mich am meisten erinnere, ist das Gefühl, wenn man die ukrainische Grenze überquert, es ist unmöglich, es mit Worten zu beschreiben. Da gab es Panzerkolonnen, Drohnen, überall Checkpoints, Militär mit Maschinengewehren, Sirenen heulen, Raketen schlagen ein, Menschen sterben…Und dann scheinst du in eine parallele Realität einzutreten, atmest andere Luft…

Und wirst von einer unglaublichen Freundlichkeit empfangen, so viele Menschen, die versuchen, einfach alles zu tun. Vielen Dank an alle, die helfen, auch mit einem Lächeln oder einem netten Wort! Vor allem Polen, Moldawien, Rumänien und auch Deutschland – eure Unterstützung ist etwas Unglaubliches! Und danach hörst du auf, irgendwo an den Himmel und die Hölle zu glauben…sie sind hier auf Erden!

Das Schicksal hat euch schließlich zu Markus nach Bielefeld geführt. Wie kam es dazu?

Wie ich bereits sagte, fand ich die Anzeige von Markus auf der Seite, schrieb ihm und er antwortete sofort. Ich hatte nicht einmal Zeit, über irgendetwas nachzudenken, da hatte Markus schon alles für unsere Familie und besonders für unseren Sohn organisiert. Alles! Von Lätzchen bis hin zu Kindermöbeln! Das war unglaublich!

Welchen Eindruck hattest du bei deiner Ankunft in Deutschland?

Vor ein paar Jahren waren wir mal für einen Tag in Berlin unterwegs. Die Stadt erschien mir sehr interessant und abwechslungsreich. Wir hatten aber nur wenig Zeit, umuns alles anzusehen. Aber es war sehr interessant, also beschlossen wir, dass wir irgendwann nochmal zurückkommen wollen.

Mit Markus an eurer Seite, der regelmäßig als Ukrainisch-Übersetzer tätig ist, war es sicherlich anfangs etwas einfacher hier anzukommen als für andere Mitreisende. Gab es trotzdem Situationen, in denen euch das Zurechtfinden besonders schwergefallen ist?

Glücklicherweise haben wir dank Markus alles in Deutschland problemlos geregelt!

Die neuen Medien bieten heute unzählige Möglichkeiten für das Verständigen in anderen Sprachen. Warum hattest du das Gefühl, dass diese Kommunikationshilfen nicht ausreichend sind?

Ja, die Medien sind mehr als ausreichend für die schnelle Verständigung, aber sie alle zielen nicht auf das nachhaltige Erlernen der Sprache ab und nicht auf die Integration. Ukrainer in Deutschland leben jetzt, begegnen Alltagssituationen ohne Sprachkenntnisse und dieses Buch wird von den ersten Tagen des Aufenthalts an nützlich sein. Es ist auch eine große Hilfe für diejenigen, die die Sprache bereits in Kursen lernen, denn es gibt eine Erklärung der Grammatik auf Ukrainisch und eine ukrainische Transkription, die man in Lehrbüchern nicht finden wird.

Wie lief der Schreibprozess ab?

Ich bin Markus und dem Verlag sehr dankbar für diese Gelegenheit meinen eigenen Sprachführer zu schreiben! Schließlich hat mich diese Arbeit zuallererst von ständigen Gedanken an den Krieg abgelenkt, von dem Schuldgefühl, dass ich mein Land verlassen habe. Ich hatte das Gefühl, etwas Nützliches zu tun, und das war sehr wertvoll für mich.

In eurem Buch sind viele Kapitel zu Alltagssituationen enthalten, die man nicht in regulären Sprachtrainer findet. Entstammen die Ideen hierzu aus deiner persönlichen Erfahrung?

Wir haben in unserem Buch Kapitel zu allen Themen geschrieben, die uns persönlich bei unserem ersten Aufenthalt in Deutschland geholfen hätten – vom Einkauf bis zum Behördengang oder Arztbesuch.

Welches dieser Kapitel liegt dir besonders am Herzen?

Die Sprich- und Schimpfwörter (lacht). Fragen Sie mal einen Ukrainer, was es heißt, „nicht alle Tassen im Schrank zu haben“. Da werden sie nur verwundert angeschaut. Dieser Teil ist wirklich lustig geworden. Aber auch das Kapitel zu Kindergarten und Schule war für mich als Mutter wichtig hinzuzufügen.

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