Die Schneekönigin

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© Claudia Hildenbrandt und Daniel Mathias - Salinas Grandes - Die Salzwüste Argentiniens ist kein leichtes Pflaster für Radfahrer

Direkt aus der Fabrik sollen unsere Räder in die Welt hinaus – die erste Tour führt von Sachsen nach Thüringen. In einem Blumenladen bei Halle an der Saale entpuppt sich die Verkäuferin als Märchen-Protagonistin. Die „Schneekönigin“ kappt gerade Rosenstiele. Ich bitte sie um zwei Liter Leitungswasser. „Kaufen Sie’s doch im Supermarkt“, reagiert sie eisig und gießt jetzt die Blumen – mit Leitungswasser, klar. „Ich will aber keinen weiteren Plastikmüll produzieren“, wage ich zu erklären. „Na, das geht aber nicht. Wenn mich jeder danach fragen würde, wäre ich ja arm!“ Ich hoffe noch, die Furie scherzt, will ihr drei Cent über den Ladentisch schieben. Doch ihr Körper spannt sich vor Entrüstung und macht mir klar: Sie meint es ernst. Wortlos verlasse ich das Geschäft und ärgere mich über meine Feigheit. Noch heute. Was ich ihr nicht alles an den Kopf werfen möchte.

Auch in den Schweizer Alpen stänkert ein Giftzwerg. Ende August brennt die Sonne auf die Serpentinen, die Zunge klebt am Gaumen. Mit knallrotem Kopf bitte ich einen Restaurantchef um Leitungswasser. „Nee, so einfach ist das nicht. Da musst du auch was kaufen.“ Ich glaub, ich hör nicht recht? „Kannst ja da unten aus der Scheune was holen, da ist ein Hahn.“ Wieder bin ich feige, verlasse die Theke und trotte zur Scheune. Was der Giftzwerg nicht verriet: Das Wasser stammt aus einem Bach, der eine Weide entwässert. Den nächsten Pass müssen wir mit Durchfall hinauf.

Nicht minder kräftezehrend, wenn auch ohne Magendrücken: die Steppe Usbekistans. 42 Grad lähmen, schon morgens tropft der Schweiß von der Stirn ins Müsli. An einer Lehmhütte wollen wir nach ein paar Litern Wasser betteln, denn der Dorfbrunnen scheint längst versiegt. Wasser wird von Tankwagen geliefert. Kinder flitzen uns entgegen, die Mutter hinterher. Sie füllt die Trinkflaschen zum Überlaufen und drängt uns ins Haus. Schnell ist die Suppe angerichtet, dazu Brot, Obst auf Teller gestapelt. Nein, nur mit Wasser lässt man uns nicht fort: Ohne Mittagessen dürfen wir nicht weiter.

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© Claudia Hildenbrandt und Daniel Mathias - Sharisabz, Usbekistan: Nur mit Wasser lässt man die Gäste nicht ziehen
Sharisabz, Usbekistan: Nur mit Wasser lässt man die Gäste nicht ziehen

Noch trockener, noch leerer und armseliger ist das Altiplano, die Hochebene Boliviens. Das Land hängt am Tropf der Andengletscher, die unaufhaltsam schmelzen. Selbst große Städte drehen das Wasser ab. Männer und Frauen gehen auf die Barrikaden, blockieren die Straßen mit brennenden Reifen – und entführen gar Politiker im Kampf um das Kostbarste der Welt. In einem Laden für Alternativmedizin verkauft eine Indigene Vitamine, Bio-Kaffee, „glutenfreie“ Marmelade – und Schlagermusik. Wir brauchen agua potable, insgesamt sieben Liter Trinkwasser, und beschwingt zeigt sie auf den großen Wasserspender im Raum. „¿Cuánto cuesta?“, was es denn koste, frage ich, um sie beim Preisaufschlag zu mäßigen. „Es gratis“, lächelt die Verkäuferin. „Aber Sie haben das Wasser doch selbst gekauft?“ „Trotzdem, für Wasser verlange ich kein Geld.“

Unweit des Ladens passieren wir die Landesgrenze: Auch der Norden Argentiniens schreit nach H²O, und wir vor Verzweiflung. „Die bekloppteste Piste der Welt“, das wäre mal ein Weltkulturerbe der UNESCO. Den Preis gewinnt die „Straße“ entlang der Salinas Grandes. Knöcheltiefer Schotter, Sand, fußballgroße Felsen und ein Wellblech, dass die Bandscheiben aus den Fächern springen. Auf gerader Ebene rattern wir mit fünf Kilometern pro Stunde, knapp hundert liegen vor uns. Mit Karacho schlage und trete ich gegen die Radtaschen. Die Wut entlädt sich anstandslos und ohne Scham. Daniel verflucht – zähneknirschend – die sandbeladenen Gegenwinde. Wir geben auf und wollen die Andenrunde abbrechen.

Mutlos, kraftlos hocken wir im Dreck und warten auf nichts. Irgendwann braust ein Bus um die Kurve, hält an, spuckt gut gelaunte Touristen aus. Alles Engel, denn jeder von ihnen hält eine andere Gabe in der Hand. Der erste eine Gallone Wasser, die zweite Cola, die dritte Chips und der vierte eisgekühltes Bier – Halleluja! Dazu feuern sie uns an, mit Lob und Bewunderung, wir dürften nicht verzagen. Noch mehr Cola, noch mehr Chips. Als sie weiterfahren, sind Wille und Mut wieder zurück. Die geplante Runde ziehen wir durch.

 

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© Claudia Hildenbrandt und Daniel Mathias - Rettung in Form von Cola, Chips und Bier - Halleluja!
Rettung in Form von Cola, Chips und Bier - Halleluja!

 

Der Text ist ein Auszug aus unserem ReiseSplitter "Jesus liebt Radfahrer - Navid auch. Wie uns Gottgesandte, Waffennarren und Warmduscher aus der Klemme halfen" von Claudia Hildenbrandt und Daniel Mathias. Das Buch findet ihr hier in unserem Online-Shop.

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