Perspektivwechsel
„Wie Ergometer fahren in der Trockensauna!“, flucht Daniel, leiht sich den Wasserschlauch eines Autowäschers und duscht sich ab. Hier in Tadschikistan, am Fuß des Pamir, misst der Tacho die Qualen: 42 Grad, über 1000 Höhenmeter täglich, auf grob geschotterten Pisten. Seit Tagen fühlen wir uns wie Schildkröten auf Rädern, halluzinieren von eisgekühlter Cola, Vanilleeis und dem Meer. Alles dreht sich um uns selbst. Touristensorgen im ärmsten Land Zentralasiens. Ein Drittel der Frauen, Männer und Kinder hungert, ein Viertel durstet. Hussein ist davongekommen. Ein Bänker, der Englisch spricht und „hoffentlich bald“ auch unsere Sprache, um ein Visum für Deutschland zu bekommen. Er weiß um die vielen Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan, und fragt, wie seine Chancen stünden.
Er nickt, als wir ihm von den Hürden berichten, die man immer höher schraubt. Selbst für einen wie ihn, gerade für einen wie ihn, der nicht vor Krieg und Verfolgung flieht, sondern sich „nur“ nach einem besseren Leben sehnt. „Und dann stellt sich die Frage, ob du dich wohl fühlen würdest. Als Muslim ist es schwer in manchen Regionen.“ „Was habt ihr gegen uns?“, will Hussein wissen. „Alles fing wohl mit 9/11 an, als Muslime ins World Trade Center …“ – „Das waren doch aber keine Muslime!“, unterbricht er mich erstaunt. Wer sonst? „Die Amerikaner selbst. Die Bush-Regierung.“ Woher er denn die Info habe, frage ich und sehe mich schon mit Verschwörungsvideos malträtiert. Doch das Smartphone bleibt in der Hosentasche und Hussein ernst. „Von Russia Today.“ Dem russischen Nachrichtensender. So selbstverständlich berichtet er, wie wir von einem Beitrag aus der Tagesschau. Anschließend erzählt jeder seine Version der Wirklichkeit.
Ähnliches widerfährt uns in Pakistan, wo die Amerikaner 2011 bin Laden erschossen. Alle, wirklich alle – vom Bauarbeiter über den Lokalpolitiker bis hin zum Universitätsprofessor – sind davon überzeugt, dass Washington schon lange wusste, wo sich bin Laden aufielt. In Abbottabad, einer großen Stadt direkt am Karakorum Highway. Alle lachen über uns, die glauben, er sei im Arabischen Meer versenkt worden. Was für uns eine Lüge ist, gilt in anderen Teilen der Welt als Wahrheit – und umgekehrt.
„Ich habe ein mulmiges Gefühl“, gesteht mir Daniel im Flieger Richtung USA. Bald werden wir hineingeworfen in ein Land, dessen Einwohner Donald Trump zum Präsidenten wählten und den Besitz von Waffen als Bürgerrecht verteidigen. Den allerersten Gunshop unseres Lebens betreten wir in der Wüstenstadt Pahrump, unweit von Las Vegas. Waffenhändler James, offen, freundlich, und klischeehaft dick, ruft über den Ladentisch: „Wollt ihr was kaufen oder seid ihr Touristen?“ Wir outen uns, sind schon fast wieder draußen. „Kein Problem, schaut euch um, stellt mir all eure Fragen! Ich kann euch Waffen zum Halten reichen!“ Bis zum Ladenschluss löchern wir ihn (mit Fragen). Auf 100 US-Amerikaner kommen 88 Schießeisen, gerne auch offen getragen im Walmart, in Nationalparks oder an Tankstellen. Entweder am Gürtel oder modisch im Schulterholster. James rattert sämtliche Statistiken der NRA herunter: „Waffen werden 80-mal häufiger eingesetzt um Leben zu schützen als zu töten.“ So viele Morde würden verhindert, so viele Diebe von Überfällen abgehalten. In meiner Welt ist er ein Realitätsverweigerer, in seiner bin ich es. „Es gibt in Pahrump nur einen Laden, in dem Waffen verboten sind – und jetzt ratet mal, wo immer eingebrochen wird!“
James reicht mir ein halbautomatisches Sturmgewehr, das meistverkaufte. Drei Kilo Mordpotenzial. Ein Achtzehnjähriger darf es kaufen, aber kein Bier. James ist nicht zu bremsen: Eine Knarre im Wagen sei überlebenswichtig, wenn der Pickup mal liegen bleibe und falls Ganoven die Situation ausnutzten. Es gibt viele „falls“ und „wenns“ in diesem Gespräch. Die Stadt sei zwar sicher, falls aber doch ein Moment der Unsicherheit einträte, müsse man vorsorgen. „Meine Frau ist Jüdin“, meint James’ Kollege. „Sie traut sich ohne Pistole nicht aus dem Haus. Denkt nur an die vielen Palästinenser!“ In Pahrump, umgeben von Wüste? James’ Frau ist Lehrerin: „Zwei Drittel meiner Schüler haben Waffen.“ Lehrer mit Pistolen ausstatten? Unbedingt! Allein 2018, in dem Jahr unseres Besuchs, schossen 97 Wahnsinnige in Schulen. Schulranzen sollen Schutzschilder sein, der Verkauf von bulletproof backpacks steigt. Sorgen sollten wir uns aber nicht, die Stadt sei absolut sicher. „Wegen der Leute oder der Waffen?“ Alle drei antworten gleichzeitig, wie aus einer Pistole geschossen: „Na, wegen der Leute!“
Am Grand Canyon schlagen wir das Zelt neben Gavin auf, einem Wanderer, der die großen Trails Amerikas läuft. Sein Rucksack, kein kugelsicherer, wiegt kaum mehr als ein Beautycase. Er schläft unter freiem Himmel und ernährt sich von Fertignudeln, eingeweicht in kaltem Wasser. So wie die anderen seiner genügsamen Spezies. Ein sympathischer, junger Typ, der sich vor Grizzlys und zu viel angestaubter Sesshaftigkeit zu schützen weiß. Doch dann der Schreck: Am Lagerfeuer „outet“ sich Gavin als Trump-Wähler, er habe sogar eine Rede von ihm besucht. „Trump kennt sich mit Wirtschaft aus“, so Gavins Begründung. „Er war der maximale Arschtritt. Eigentlich wähle ich die Demokraten, doch ich hatte keine Lust auf die nächste Präsidentendynastie.“ „Aber spätestens als er einen Behinderten nachäffte, muss dir doch klar geworden sein, dass Trump ein menschliches Desaster ist?“ Gavins Antwort: „Das habe ich ausgeblendet.“
Ein paar Tage später treffen wir Pfarrer Harry, der uns einlädt, in seiner Kirche zu übernachten. Harry ist stockkonservativ, Republikaner und Waffennarr. „I have 25 beautiful guns and I love them all!“, schwärmt er. „Kommt mich zu Hause besuchen, dann können wir ordentlich ballern. Die Magnum wird euch den Arm auskugeln, ein heißes Teil.“ Du darfst nicht töten, heißt es in der Bibel – „außer in Notwehr!“, zitiert Harry einen anderen Passus. Seine Waffen lässt er sich nicht nehmen, deshalb die Stimme für Trump. Beim Abendbrot setzt sich eine Glaubensschwester zu uns und wirkt, positiv ausgedrückt, klein und geknickt. Ich frage, ob alles okay sei, und sie flüstert: Ihr Schwiegersohn, christlich und Pastorensohn, chatte in Schwulenportalen. Seine Frau habe ihn ertappt. Auf Empfehlung eines Geistlichen zog sie kurzzeitig aus, damit sich ihr Ehemann wieder „berappele“. „Wir sind alle Sünder“, schluchzt die Gläubige. „Aber ich mache mir große Sorgen, dass mein Schwiegersohn nicht wieder auf den rechten Weg kommt.“
Der Text ist ein Auszug aus unserem ReiseSplitter "Jesus liebt Radfahrer - Navid auch. Wie uns Gottgesandte, Waffennarren und Warmduscher aus der Klemme halfen" von Claudia Hildenbrandt und Daniel Mathias.